Leben im Schatten eines Staudamms – PWS evaluiert die Begleitung neuer Gemeinden

Mary ist nicht die Einzige, der die Tränen kommen, wenn sie von der Zeit erzählt, bevor der riesige Staudamm errichtet wurde, der über uns thront. In Anbetracht der Landschaft, die sich uns bei unserem Besuch in der Gegend um den Sogamoso-Fluss zwischen Barrancabermeja und Bucaramanga bietet, ist es nicht schwer sich das Paradies vorzustellen, von dem die Gemeinde-Anführerin und die Bewohner der umliegenden Dörfer allesamt schwärmen. Doch damit ist es seit 2008 vorbei. Seit die Firma ISAGEN eines der größten Wasserkraftwerke Kolumbiens in der Region errichtet hat, hat sich ihr Leben radikal verändert.

Zusammen mit der PAS-Koordinatorin für die Region des Mittleren Magdalena, unternahmen wir letzte Woche eine zweitägige Reise durch verschiedene Dörfer, die von den Folgen des Staudamms betroffen sind, um eine mögliche Begleitung durch PAS und Peace Watch zu evaluieren. Dafür sprachen wir mit den lokalen Anführerinnen des Movimiento Social en Defensa del Rio Sogamoso y Chucurí, welches Teil des größeren Netzwerks Movimiento Rios Vívos ist. In den Gesprächen versuchten wir herauszufinden, inwiefern die Konstruktion des Kraftwerks das Leben der Bewohner beeinflusst hat, welche Konflikte entstanden sind, inwiefern Rechte verletzt wurden und werden, welche Stärken und Schwächen der Organisationsprozess der Opfer aufweist und inwiefern die persönliche Sicherheit der Anführer der Bewegung in Gefahr ist.

Insgesamt sind zahlreiche Dörfer, in 7 Kommunen, in denen mehr als 2000 Familien leben, von den Folgen des Mega-projekts betroffen. Die Menschen lebten seit Jahrzehnten vor allem vom Fischfang, dem Anbau von Yuca, Bananen, Kakao, Mandarinen und Avocados und dem Verkauf von aus dem Fluss gewonnen Steinen, die vor Ort verarbeitet wurden. Besonders die Fischerei im von verschiedensten Fischarten wimmelnden Sogamoso, war für die Bewohner sehr ertragreich.

Als 2008 die Medelliner Firma INGASEN mit der Konstruktion des Staudamms Hidrosogamoso begann und dafür zunächst 7000 Hektar fruchtbares Land überschwemmte, wurde das Land und für die Landwirtschaft unbrauchbar. Die die BewohnerInnen sind dabei komplett überrascht worden. Die verschiedenen Gemeinden waren in keiner Weise organisiert, um ihre Stimme hörbar zu machen, viele ließen sich von dem Versprechen auf gut bezahlte Arbeit und Infrastrukturprojekte durch die Firma blenden und alle beteuern, nicht ausreichend über die Folgen des Staudamms für die Umwelt und ihre Wirtschaft informiert worden zu sein.

Hunderte Familien mussten ihre Häuser verlassen und wurden in andere Dörfer umgesiedelt. Erst als sich nach und nach die ökonomischen, ökologischen und sozialen Folgen des Kraftwerks abzeichneten, begannen die BewohnerInnen sich in Gruppen zusammenzuschließen, um für ihre Rechte zu kämpfen.

Was sind einige dieser Folgen? Die wahrscheinlich schlimmste Auswirkung, unter der die Menschen leiden, ist der signifikante Rückgang der Fischbestände im Sogamoso-Fluss und den umliegenden Bächen und kleineren Flüssen. Konnten vor dem Bau noch sämtliche Fischerfamilien bequem vom Verkauf des Fisch leben und ihre Familien ernähren, erzählt uns eine Familie, dass sie heute nicht einmal mehr genug Fisch fängt, um das Benzin des Bootes zu bezahlen. Dies hat quasi gezwungenermaßen zu Konflikten zwischen den Fischern geführt, die sich immer weniger Fisch untereinander aufteilen müssen, zumal ISAGEN die Zeiten für den Fischfang praktisch kontrolliert, indem es die Höhe und Schnelligkeit des Flusslaufes reguliert.

So treffen wir auch eine Mutter, deren Sohn im vergangenen Jahr im Streit um Quoten und Zeiten für den Fischfang von einem anderen Bewohner des Dorfes erschossen wurde. Auch berichten viele von durch den Fluss hervorgerufenen Hautkrankheiten seit der Konstruktion des Damms. Die gesunkene Qualität des Wassers zeigt sich auch an den Steinen im Fluss, die vielen bisher als solide Einkommensquelle gedient hatten. Durch die gesunkene Wasserqualität sind diese Steine heute unbrauchbar für die Verarbeitung und wir sehen kleine und mittlere Betriebe, die stillgelegt werden mussten.

Auch die Landwirtschaft ist durch die Folgen des Staudamms eingebrochen. Nicht nur wegen der Überflutung großer Teile des fruchtbaren Landes, sondern auch weil der schiere Eingriff in die sensible Natur am Sogamoso-Fluss einen Wandel des Mikroklimas hervorgerufen hat, der Flora und Fauna verändert. Viele Kleinbauern berichten von enormen Rückgängen ihrer Erträge, von denen sie kaum noch leben können. So berichtet eine Familie, die vom Anbau von Mandarinen lebt, dass sie früher ca. 500 Kisten Mandarinen pro Jahr ernten konnte, während sie dieses Jahr bisher 58 geerntet hat.

Der Wegfall ökonomischer Möglichkeiten hat auch zu einer Krise für die jungen Menschen in den Dörfern geführt: der Konsum von Drogen und die Prostitution sind extrem gestiegen und viele Jugendliche haben ihre Studien abgebrochen, um ihren Familien helfen zu können. Schließlich ist es zu starken sozialen Spannungen zwischen BewohnerInnen, die vom Staudamm profitieren – ergo für die Betreiberfirma arbeiten – und all denen, die unter den Folgen leiden, gekommen.

Um diesen Folgen etwas entgegenzusetzen haben viele der Bewohner sich im Movimiento Social en Defensa del Rio Sogamoso y Chucurí zusammengeschlossen. Mit Unterstützung eines Anwaltskollektivs haben sie individuelle und kollektive Klagen gegen das Unternehmen, welches mittlerweile von der kanadischen Firma Brookfield Asset Management übernommen wurde, eingereicht. Wie so häufig kommen diese Klagen nur äußerst langsam voran.

Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, überlegten sich einige der führenden Frauen in der Bewegung eine ganz besondere Idee: Im Mai 2015 begannen sie gemeinsam von ihren Dörfern in die Provinz-Hauptstadt Bucaramanga zu laufen. Nach drei Tagen Protestmarsch wollten sie ihre Forderungen dem Gouverneur persönlich vorstellen. Als dieser sich weigerte, die Frauen zu empfangen, schlugen sie ihre Zelte im zentralen Park der Millionenstadt Bucaramanga auf – direkt gegenüber der Provinzverwaltung. Aus einem Tag wurde eine Woche, ein Monat und schließlich volle sechs Monate, in denen die Frauen in einem Protestcamp in diesem Park lebten. Dieser Protest war anstrengend – die Frauen lebten nur von Essens-Spenden der BewohnerInnen Bucaramangas – aber effektiv. Nach sechs Monaten, erklärte sich die Lokalregierung bereit, den betroffenen Familien, 500 Hektar neues Land zu übergeben. Scheinbar ein kleiner, aber achtbarer Erfolg.

Doch aus dieser Versprechung ist bis heute nichts geworden. ISAGEN hat das versprochene Land immer noch nicht an die Lokalregierung übergeben, so dass die Bewohner der Dörfer immer noch mit leeren Händen dastehen. Schlimmer noch: Innerhalb der Bewegung haben sich aus Frustration über ausbleibende Ergebnisse tiefe Gräben gebildet über die zukünftige Nutzung des Landes und einige Mitstreiter werfen den Anführerinnen ohne jede faktische Grundlage vor, die Übergabe zu verzögern. Als Folge haben diese eine parallele Bewegung gestartet, die sich öffentlich gegen das Movimiento Social stellt, ihnen persönliche Bereicherung vorwirft und zunehmend die negativen Folgen des Projekts für die Region herunterspielt. Die Anführerinnen des Movimiento sind überzeugt, dass diese neue Bewegung von der Firma direkt unterstützt wird, um Rios Vivos zu diskreditieren und das öffentlichte Image des Unternehmens zu verbessern.

Die Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen und Bewohnern sind mittlerweile so schwerwiegend, dass mehrere Anführerinnen uns berichten, um ihre Sicherheit und die ihrer Familien zu fürchten. Gegen eine von ihnen gab es bereits klare Todesdrohungen und die Geschichte von Auftragsmorden und dem Verschwindenlassen von anderen AnführererInnen sozialer Bewegungen in der Region lässt nichts Gutes erwarten. Aus diesem Grund evaluieren PWS und PAS nun die Zusammenarbeit mit dem Movimiento, um Schutz für die Anführerinnen zu bieten und den Organisationsprozess zu stärken. Ein entscheidender Faktor für diese Evaluierung wird sein, herauszufinden inwiefern INGASEN direkt und indirekt in Drohungen und Menschenrechtsverletzungen verwickelt ist. Wir werden über die Ergebnisse der Evaluation und eine mögliche Begleitung des Prozesses berichten.

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