KOLUMBIEN. Die Unidad para la atención y reparación integral a las Víctimas stattet ASOCAB (Asociación de Campesinos de Buenos Aires) gerade einen Besuch ab. Zwei Frauen, Mitarbeiterinnen von einer der zahlreichen Institutionen des Staates, die mit dem Abklingen des bewaffneten Konflikts geschaffen wurden, sitzen an einem langen Holztisch vor ungefähr 40 Betroffenen der Gemeinden Buenos Aires und Las Pavas.
Sie führen in die Sitzung ein und stellen den Tagesplan vor. Yessica, eine der beiden, hat eine laute, durchdringende Stimme und dominiert die Versammlung. Sie beginnt mit einer nicht sehr positiven Nachricht. Zwei Monate liegt der letzte Besuch der Unidad para las Víctimas zurück, bei welchem ASOCAB aufgefordert worden war, ihre Urkunden über eigene Grundstücke an die Institution zu übermitteln, angehängt an einen Brief mit einer formellen Bitte um kollektive Reparationszahlungen. Yessica rügt, dass ihr diese bislang nicht vorliegen, wodurch die bürokratischen Voraussetzungen nicht erfüllt seien und der Prozess nicht fortgeführt werden könne.

Insgesamt umfasst ASOCAB mehr als 400 Personen, die aufgrund einer Zwangsumsiedlung im Jahre 2003 durch andauernde paramilitärische Präsenz Anspruch auf staatliche Zuwendungen haben. Bedingung dieser Reparationszahlungen jedoch ist, dass sie in Form von Materialien ausbezahlt werden, abhängig davon was damals vorgefallen ist. Die Aufgabe der Unidad para las Víctimas ist demnach weder den Monatslohn aufzustocken, noch zerstörte Häuser aufzubauen. Vielmehr werden Materialien, Werkzeuge und Samen zur Verfügung gestellt, mit welchen die Betroffenen eigenständig das wiedererlangen, was damals zerstört wurde und eine friedliche Entwicklung vorantreiben können.
Grundsätzlich ein sinnvoller Ansatz, der alle Familien dazu anregt, ein unabhängiges Leben nach dem Konflikt zu beginnen, und der gleichzeitig eine andauernde Reviktimisierung mit einmaligen Zuwendungen zu vermeiden versucht. Aber jeder gute Ansatz hat auch seine Lücken und in einem durch und durch bürokratischen Staat wie Kolumbien fallen diese Lücken immer zu schnell auf. Eine dieser Lücken umfasst die Art der Vorfälle, die von der Unidad para las Víctimas registriert und berücksichtigt werden.

Neben der Zwangsumsiedlung wurde ASOCAB 2009 zusätzlich Opfer einer staatlichen Räumung zu Gunsten eines nationalen Palmunternehmens mit dem Namen Aportes San Isidro. Nur wenige Jahre später konnten die ersten Familien, unter anderem mit der Unterstützung von Peace Watch Switzerland, wieder zurück auf ihre Grundstücke, da sich die Räumung durch Polizei und Militär als unrechtmässig erwiesen hatte. Als jedoch 2012 das Unternehmen zusätzlich zu seinen Angestellten eine Gruppe von bewaffneten Personen, mit Verbindungen zu paramilitärischen Kreisen, beauftragte, die Grundstücke von ASOCAB mit jungen Palmölsetzlingen zu bepflanzen, Nahrungsmittelpflanzen und Häuser zu zerstören und somit erneut gravierend in den Lebensbereich von über hundert Familien einzugreifen, erlitten die BewohnerInnen genauso wie 2003, psychische sowie physische Schäden.
Der Unterschied zu 2003 und der Grund, warum ASOCAB in dieser Hinsicht keine kollektiven Reparationszahlungen zustehen, liegt darin, dass Aporte San Isidro und die unbekannten bewaffneten Personen weder Bomben schmissen, noch dass es zu dokumentierten Massenmorden im Dorf oder tödlichen Anschlägen anderer Art gekommen ist. So wird im Gespräch mit Yessica schnell deutlich, dass der eigentliche Traum, das damals zerstörte Versammlungshaus von ASOCAB wiederaufzubauen, ein Traum bleiben wird. Denn der Staat sieht sich hier nicht in der Verantwortung, obwohl die illegale Räumung von Las Pavas zu Gunsten des Palmunternehmens durch staatliche Einheiten vollzogen wurde.

Wirklichkeit hingegen werden finanzielle Mittel zur Unterstützung des Fischereiwesens und der Landwirtschaft. Innerhalb dieses Rahmens werden pro Projekt umgerechnet 14.000 CHF garantiert. Wie diese Summe aufgeteilt wird und für welche einzelnen Bestandteile wie viel ausgegeben werden soll, wird in den folgenden drei Stunden in Kleinstarbeit lauthals diskutiert. Dass hierbei nicht immer alle einer Meinung sind, fällt schnell auf. Bei einer Sache jedoch herrscht Einigkeit: Dankbar sind sie alle für das Saatgut und die Werkzeuge, welche hoffentlich in den nächsten Monaten ankommen werden, und ausschlagen wird diese auch niemand von den hier Anwesenden. Aber die Frage, die aufkommt, lässt alle nachdenklich zurück: „Wir haben, Gott sei Dank, bereits genügend Bananen, Maniok und Reis und wir haben die nötigen Werkzeuge, um unsere Felder zu bestellen. Den Staat brauchen wir nicht, um uns das zu geben, was wir uns bereits selber erarbeitet haben. Wir brauchen den Staat, damit er uns das Recht auf unser eigenes Land gibt, um dieses ohne Angst und in Ruhe bearbeiten zu können. Wann wird das passieren?“
Deutlich wird nach der kurzen Stille nicht nur, dass staatliche Institutionen keine Antwort auf diese Frage geben können, sondern dies auch nicht wollen, da es nicht im Interesse des Staates liegt, Kleinbauern ihre Felder zu überlassen, während multinationale Firmen auf der gleichen Fläche grössere Gewinne einbringen könnten.

Vielleicht ist das auch ein Grund, warum die Hälfte der Anwesenden kaum zuhört, wenn die Frauen der Unidad para las Víctimas etwas zu sagen haben. Mit Sicherheit aber ist es ein Grund für das innere Unverständniss und die Trauer. Manchmal scheint es, als wäre der Staat immer noch sehr weit weg von allen Geschehnissen, die in den Gemeinden hier in Bolívar stattfinden. Jedenfalls ist Bogotá sehr weit weg. Dies wissen auch Don Yasid* und Don Andrés*, seitdem sie von der Unidad para las Víctimas nach Bogotá eingeladen wurden, wo allen Bäuerinnen und Bauern von ASOCAB offiziell der Status eines Opfers des bewaffneten Konflikts zugesprochen wurde und weshalb sie nun Anspruch auf die Reparationszahlungen haben. Im gleichen Atemzug wurde ASOCAB ein Besuch im berühmten Museo del Oro in der Hauptstadt geschenkt, wo sie das kulturelle Erbe ihres Landes bestaunen durften. Dieses Ereignis bleibt eingebrannt in den Köpfen der Betroffenen, denn wenn ein Staat anscheinend solchen Reichtum besitzt, wie damals im Museum gezeigt, warum können dann nicht genügend finanzielle Mittel gefunden werden, um auch das Versammlungshaus wieder aufzubauen? Sollte das Unverständnis davor noch nicht gross genug gewesen sein, so ist sie es definitiv ab diesem Moment, und damit bleibt der kolumbianische Staat auch weiterhin eine abstrakte Idee in weiter Ferne, die wenig mit dem Leben der Campesin@s zu tun hat.
*Namen geändert
Hannah-Milena Elias, 11. November 2019, Barrancabermeja
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Fotos: © Nadine Siegle 2019