KOLUMBIEN. “Kunst macht sichtbar”, schrieb einst der berühmte Paul Klee. Nicht selten denkt man bei Kunst an teure Malerei, schicke Museen oder Auktionen für Ultrareiche. Der künstlerische Ausdruck ist inmitten von Armut und Krieg aber genauso bedeutsam.
Mich beeindruckte bereits bei einer Graffiti-Tour in der mittlerweile sehr touristischen Comuna 13 in Medellín, wie die KünstlerInnen das Quartier verwandelt haben. Sie machten ihre Geschichte – sei sie noch so traumatisch gewesen – mit Farben und wunderschönen Linien sichtbar. Doch hier geht es natürlich nicht um Medellín oder die Kunst aus der Spraydose. Der Ausdruck von Kunst im kleinen Rahmen, ohne grosse Mittel, hat mich bei unserem letzten Besuch in Las Pavas besonders fasziniert.
An einem Morgen nach dem Frühstück stupste mich der neunjährige Santiago* an und zeigte mir voller Stolz, was er gerade machte: Er häkelte mit grünem Faden. Was es werden sollte, war mir noch nicht ganz klar. Ein paar Minuten später stand er wieder neben mir. Er nahm meine Hand und band mir das gehäkelte Armband um das Handgelenk. Ganz knapp passte es. Er strahlte. Und kurz darauf folgte ein zweites, dieses Mal aus rosafarbenem Faden.

Santiagos Flair für das Künstlerische zeigte sich aber vor allem, als er uns einen Tag lang in Las Pavas herumführte und zu den anderen Fincas begleitete. Nachdem er entdeckte, dass wir unsere Kamera dabei hatten, hing diese den restlichen Tag um seinen Hals. Er fotografierte alles, was ihm vor die Linse kam, aus seiner Perspektive und mit seiner Vorstellung davon, wie etwas auszusehen hat. Stolz präsentierte er immer wieder, was er da fotografiert hatte. Der grosse Vorteil der digitalen Fotografie, die das Kunstwerk sofort offenbart.
“Die Kunst macht sichtbar.” Wir sind zwar nicht der Kunst wegen hier, doch es gehört ebenfalls zu unserer Aufgabe als internationale Menschenrechtsbeobachterinnen, die Geschichten unserer Comunidades sichtbar zu machen. Mit Santiagos Bildserie gelingt dies in diesem Fall auf eine etwas andere Art. Er gibt uns einen Einblick in sein Las Pavas. Seien es Platano-Bäume, Yuca-Pflanzen oder die weiten Wege seiner Heimat, er zeigt uns seine Sicht auf die Dinge, die er zwar tagtäglich sieht, die er aber dennoch mit genauso grosser Faszination festhält, wie die Touristen die farbenfrohen Graffiti der Comuna 13.
*Namen geändert.








Nadine Siegle, 14. Oktober 2019, Barrancabermeja
Titelbild: © Nadine Siegle 2019