Artikel von Nicolas Schärmeli, Menschenrechtsbegleiter von PWS in Honduras.
Tegucigalpa, Honduras
Von etwas zu hören oder es wirklich zu erleben, ist nicht dasselbe. Ich denke, dies ist eine der tiefgründigsten Erfahrungen, die mir hier in Honduras widerfahren sind und einer der Gründe, warum ein Volontariat bei Peace Watch Switzerland (PWS) und die getätigte Arbeit mir viele Gedankengänge und Reflektionen eröffneten.
Im Schweizer Mittelstand aufzuwachsen bedeutet oft eine frohe Kindheit, gute Bildung und keine allzu grossen Sorgen über die Zukunft. Natürlich ist man über die Probleme in der Welt informiert, Klimawandel, Autokratien, Kapitalismus, Kolonialismus sind alles bekannte Begriffe. Allerdings sind es Phänomene, die einen nicht direkt negativ betreffen oder, von welchen man sogar eher direkt oder indirekt profitiert. Ich würde sogar behaupten, dass diese Dinge vielen Schweizerinnen und Schweizern, ohne sich dessen genau bewusst zu sein, zugutekommen.
In der Schweiz hörte ich über Monokulturen und deren negativen Effekte für die Natur, den Boden, aber auch ökonomisch für die ganze Region. Ich redete allerdings nie zuvor mit Bäuerinnen und Bauern, die von ihrem eigenen Land vertrieben werden, einfach weil dies möglich und für andere profitabel ist. Auch habe ich nie zuvor hunderte von Kilometern von Flächen gesehen, auf denen ausschliesslich eine einzige Pflanze, die Palmöl Palme, angebaut wird und der Boden für mindestens zehn Jahre unbrauchbar wird.
Als ich meine erste Gerichtsbegleitung tätigte, konnte ich meinen Augen und Ohren kaum trauen. Verschiedenste Dinge wurden durch die alte Regierung, Grauzonen in Gerichtsprozessen und fragwürdigen Richtern beeinflusst, womit ein gerechter Richtspruch praktisch unmöglich wurde. In meinen Gedanken war ich immer noch damit beschäftigt, die Instanz im System zu finden, welche dies ausbügeln sollte. „An wen müsste ich mich wenden, damit dieses Problem gelöst wird?“, fragte ich mich. Ich brauchte eine Weile, um zu realisieren, dass manchmal ganze Systeme so weit untergraben werden können, so dass Gesetze und Aufsichtsmechanismen nicht mehr die Wirkung besitzen, wie ich sie kenne.
Ich musste lernen, auf andere Art und Weise zu denken, zuzuhören und zu verstehen, weshalb Dinge passieren. Nur weil es in meinem Land oder in meiner Kultur auf eine bestimmte Art funktioniert, bedeutet nicht, dass dies anderswo auf der Welt auch so ist. Ich musste Einstellungen ändern und Verhalten anpassen.
Am stärksten beeinflusst hat mich das Kennenlernen von Menschen, die Widerstand leisten und auf ihre Rechte beharren, ohne viel Wohlstand aber mit dem Wissen, das Richtige zu tun. Sie beeindruckte mich am meisten in diesem halben Jahr. Vielen bleibt allerdings auch nicht viel anderes übrig, da ihnen aufgrund ungerechter Bedingungen und Gier bereits fast alles weggenommen wurde. Viele kämpfen für Dinge, die früher mal in ihrem Besitz waren oder der Gemeinschaft gehörten. Sie versuchen es zurückzugewinnen.
Mein Einsatz hat mir bereits nach einem halben Jahr viele meiner Privilegien aufgezeigt. Ich habe gesehen, wie unterschiedlich die Welten sind, aber auch wie unterschiedlich wahrgenommen werden können – nur durch einen unterschiedlichen Geburtsort. Es zeigten sich mir allerdings auch Möglichkeiten, wie ich – im PWS-Einsatz – meine Position nutzen und tatsächlich etwas verbessern kann. Selbstver-ständlich bin ich mir bewusst, dass ich selbst nicht die Welt bewegen kann, aber steter Tropfen höhlt den Stein, und je mehr Menschen zu etwas Gutem beitragen, desto grösser der Effekt. Zu sehen, wie Leute mit dem Wenigen, das sie haben versuchen etwas zu verbessern animiert, dem Beispiel zu folgen.
Das Kennenlernen der Realitäten in Honduras, Situationen und Tatsachen bewirkten, dass ich, auch wenn meine Arbeit hier in PWS nach einem Jahr zu Ende sein wird, mich auf die eine oder andere Art weiterhin einsetzen werde, etwas zu verbessern, weiterhin zu lernen und vor allem, mich nicht zu isolieren. Solidarität und Verständnis können meiner Meinung viel bewirken.
Foto: PWS-Begleitung einer Versammlung von Bäuerinnen und Bauern in der neuen Stadt Mel Zelaya in Choluteca