Der Prozess

Artikel von Valeria Küttel, Menschenrechtsbegleiter von Peace Watch Switzerland (PWS) in Honduras

Tegucigalpa, Honduras

Drei Jahre nach seiner Verhaftung sitzt Yoset im Strafgericht von Choluteca auf der Anklagebank. Neben ihm seine Anwältin vom Komitee der Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen in Honduras (COFADEH), die in diesem Prozess als Verteidigung auftritt. Wie es Yoset in den vergangenen drei Jahren ergangen ist, kann in diesem Artikel nachgelesen werden. Nachdem an einer Vorverhandlung im Herbst 2022 die Beweise der Anklage und Verteidigung zugelassen wurden, folgt nun die öffentliche Hauptverhandlung.

Erster Prozesstag 16.02.2023

Die Verhandlung beginnt mit der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft. Yoset wird des versuchten Mordes beschuldigt. Ihm wird vorgeworfen einen Feuerwerkskörper in eine Menschenmenge geworfen zu haben, der dann im Gesicht eines jungen Mannes explodierte. Die Tat sei politisch motiviert gewesen, denn der Vorfall passierte an einem, von der damals regierenden Partei organisierten Weihnachtsanlass, als eine Gruppe Demonstrierende der Opposition auftauchte. Als erster Beweis der Anklage wurde das Opfer in den Zeugenstand gerufen. Der junge Mann sagte aus, weder gesehen zu haben, woher oder von wem der Sprengkörper geworfen worden sei. Eine fast identische Aussage machte die zweite Zeugin, die sich während des Vorfalls in unmittelbarer Nähe zum Opfer befunden hatte. Als drittes Beweismittel der Anklage wurde ein Gerichtsmediziner aufgerufen, der die Verletzungen und Behandlungen des Opfers dokumentiert hatte. Anschliessend wurde ein Gutachter befragt, der den Tatort nach dem Vorfall untersucht hatte.

Bisher alles klare Beweise dafür, dass die Tat wirklich geschehen ist, was man bedauerlicherweise am stark entstellten Gesicht des Opfers erkennen kann und was auch niemand bestreitet. Doch die vorgebrachten Beweise belasten den Angeklagten in keiner Weise. Ein kurzer emotionaler und symbolträchtiger Moment im Gerichtssaal; das Opfer reicht dem Angeklagten nach seiner Aussage die Hand. Denn dieser glaubt nicht, dass Yoset der Täter sei. Für die Präsentation des letzten Beweises – die Aussage eines geschützten Zeugen – verlangt die Staatsanwaltschaft einen Aufschub des Prozesses. Der Zeuge habe für den heutigen Tag nicht ausfindig gemacht werden können. Das Richtergremium genehmigt den Antrag, und der Prozess wird vertagt.

Zweiter Prozesstag 07.03.2023

Der geschützte Zeuge der Staatsanwaltschaft glänzt weiterhin mit Abwesenheit. Es wird deshalb das Protokoll der Einvernahme vorgelesen, welches in den Tagen nach der Tat erstellt worden war. Die Aussagen sind unpräzise und widersprüchlich, was die Verteidigung später in ihrer Schlussfolgerung kritisiert. Beispielsweise konnte sich der Zeuge an die Uhrzeit der Tat, jedoch nicht an das Datum erinnern. Des Weiteren soll dieser aufgrund vorgelegter Fotos Yoset als Täter erkannt haben, doch die vorgängig abgegebene Beschreibung des Täters passt nicht mit den physischen Merkmalen von Yoset zusammen. Er beschreibt im Detail, wie der Angeklagte den Sprengstoff gezündet haben soll, was aus der angegebenen Entfernung und in einer Gruppe von Demonstrierenden unmöglich erscheint.

Widersprüche, die durch das Fernbleiben des Zeugen am Prozess auch nicht aufgelöst werden können. Die Verteidigung beanstandet zudem Unregelmässigkeiten bei der Befragung. Der Zeuge sei zu seiner Aussage veranlasst worden. Hatte der Zeuge die Tat wirklich beobachtet? Wieso erscheint er nicht am Gerichtsprozess? Die Verteidigung präsentiert unter anderem eine Arbeitsbestätigung des Angeklagten für besagten Tag sowie das Protokoll der Hausdurchsuchung bei der keine Beweismittel beschlagnahmt werden konnten. In der Schlussfolgerung beruft sich die Verteidigung auf den Grundsatz In dubio pro reo (lat. für: „Im Zweifel für den Angeklagten“) denn nach der Beweiswürdigung bleiben ernste Zweifel an der Schuld des Angeklagten. 

Das Urteil

Eine Woche später wird die Anwältin ans Gericht berufen, um das schriftliche Urteil zu unterzeichnen.  Das Richtergremium folgt der Schlussfolgerung der Verteidigung und spricht Yoset von der Anklage frei. Ein seltener Moment für uns als Beobachter*innen von Gerichtsprozessen, denn üblicherweise erleben wir Entscheide, die nicht nachvollziehbar sind, oder Prozesse, die über Monate oder sogar Jahre verschleppt werden. Wie gross war der Einfluss unserer Anwesenheit im Gerichtssaal auf den vorliegenden Entscheid? Diese Frage lässt sich im Einzelfall wohl nicht so einfach beantworten. Die regelmässige Evaluation mit den Anwältinnen von COFADEH zeigt jedoch, dass unsere Präsenz generell einen Unterschied macht. Die Richter*innen würden sich besser auf den Prozess und die Gerichtsakten konzentrieren. Es gibt dem Fall mehr Sichtbarkeit, und die Anwältinnen fühlen sich stärker wahrgenommen.

Yoset nimmt das Urteil ruhig entgegen, doch die Erleichterung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Drei Jahre – zwei davon im Gefängnis – sind bis zum Freispruch vergangen. Hätte COFADEH den Fall nicht übernommen, würde Yoset mit grösster Wahrscheinlichkeit weiterhin in Untersuchungshaft auf seinen Prozess warten. Die bezahlte Kaution für die Freilassung erhält COFADEH zurückerstattet, eine Entschädigung für die verlorenen Jahre wird Yoset nicht zugesprochen.   


Bildlegende: Vor dem Gerichtsgebäude. Foto: PWS, 2023