Am 25. März besuchten wir zum Abschluss unserer Ausbildung bei ACOGUATE das Archivo Histórico de la Policia Nacional (AHPN). Der Besuch hat mich berührt. Trotz des unfassbaren Ausmasses der Gräuel ist das Archiv ein Ort der Hoffnung und Versöhnung, weil es Tausenden von Opfern Gesicht und Namen zurückgibt.
Licht ins Dunkel – das verschollene Archiv taucht auf
In seinen 36 Jahren forderte der „Conflicto Armado“ mehr als 200’000 Opfer und eine Million Menschen wurden vertrieben. 45’000 Menschen sind „spurlos“ verschwunden. Entführt, verschleppt, gefoltert, ermordet. Entstellt wurden sie in Massengräbern verscharrt oder einfach auf die die Strasse geworfen. Laut dem Bericht der internationalen Wahrheitskommission sind 93% der Opfer durch den Staat, Militär, Polizei und Geheimkommandos zu verantworten, wogegen lediglich 3% der Verbrechen durch die Guerilleros verübt wurden. Wegen schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Beteiligung am Staatsterror wurde 1996, als Bestandteil der Friedensabkommen, die Policia Nacional aufgelöst. Doch einflussreiche Kreise widersetzten sich der historischen Aufarbeitung des Grauens. Hartnäckig wurde die Existenz eines Archivs, das die Vorfälle belegt hätte, bestritten. Im Juli 2005 brachte ein Zufallsfund Licht ins Dunkel und alle Beteuerungen wurden als glatte Lügen entlarvt.
Auf der Suche nach Sprengmitteln und Munition besuchte der Prokurator für Menschenrechte am 5. Juli 2005 ein aufgegebenes Polizeigebäude in Guatemala City. Durch die Fenster erkannte er riesige Mengen von Dokumenten, die sich auf Nachfrage als das verschollene Archiv der Nationalen Polizei entpuppten. Im halb zerfallenen Gebäude lagerten über 80 Mio. Dokumente (ein Stapel von ca. 8000m Länge). Hingeworfen wie Abfall, der Feuchtigkeit, dem Verfall und den Ratten preisgegeben. Schnell erkannte der Prokurator die gesellschaftliche und historische Bedeutung des Fundes und er wurde sich bewusst, dass das Archiv, nun einmal entdeckt, akut gefährdet war, vernichtet zu werden. Geistesgegenwärtig alarmierte er die Schweizer und die Schwedische Botschaft, die den Fund bezeugten.
Dass die Oligarchie keine Freude am Archiv hat, belegt die Tatsache, dass die Militärs trotz mehrfacher Aufforderung durch die Wahrheitskommision und die CICIG (Internationale Kommission gegen Straffreiheit in Guatemala) ihre Archive bis heute geheim halten konnten. Auch erhält das AHPN keinen Quetzal aus der Staatskasse zur Finanzierung seiner Arbeit. Die Instandstellung von Gebäuden und Infrastruktur, die Sicherung, Archivierung und Katalogisierung der Dokumente wird mehrheitlich durch europäische Staaten, namentlich auch die Schweiz, finanziert. Zudem fungiert die Schweiz als Schutzmacht für das Archiv. Um das historische Gewissen vor „zufälliger“ Zerstörung zu schützen, holen Mitarbeiter der Schweizer Botschaft alle drei Monate Kopien der neu erfassten Dokumente ab und bringen sie auf diplomatischem Weg in die Schweiz. Dort werden sie sicher verwahrt und sind vor unautorisiertem Zugriff geschützt. Bisher wurden 20 Mio. Dokumente gescannt, katalogisiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Erinnern, verstehen, versöhnen
„Ich glaube, das Wichtigste ist, dass kommende Generationen die historische Wahrheit kennen. Weder ist es möglich, das Geschehene vor ihnen zu verstecken, noch können wir ihnen Teilwahrheiten präsentieren. Ich glaube, dass sie diesen historischen Abschnitt der Geschichte kennen müssen! Mit welchem Ziel? – Etwa weil wir Masochisten sind? – Nein! Ganz einfach deshalb, damit sich die Geschichte nicht wiederholt!“
Aquiles Linares Morales, Stv. Richter am Tribunal Supremo Electoral (Bruder von Sergio Saul Linares, verhaftet und ermordet im März 1984)
Das APHN ist ein Eckpfeiler bei der Aufarbeitung der Geschichte und im Friedens- und Versöhnungsprozess, der auch 20 Jahre nach dem Friedensvertrag noch nicht abgeschlossen ist. In seiner Art ist das AHPN das grösste öffentlich zugängliche Archiv Lateinamerikas. Es dokumentiert die Arbeit der Nationalpolizei von ihrer Gründung im Jahre 1882 bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1996. Seine Informationen können helfen, das moderne Guatemala vor dem Hintergrund seiner Geschichte zu verstehen. 31,7 Mio. Dokumente belegen die „Arbeit“ der National-Polizei bis ins Detail. Sie belegen Arbeitsweise und Befehlsketten. Von einem Drittel der erwachsenen Bevölkerung wurden Fichen erstellt. Sie bezeugen das Schicksal derer, die ausspioniert, verhaftet, verschleppt, gefoltert und ermordet wurden.
Heute ist das Archiv öffentlich zugänglich und die Mitarbeitenden des AHPN unterstützen Überlebende und Angehörige bei der Spurensuche. Endlich haben sie die Möglichkeit, sich Gewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen zu verschaffen. Ungewissheit kann sich wandeln und das Unfassbare erhält ein Gesicht. Schmerz, Trauer und Ohnmacht erhalten den Boden, den es braucht, um die Geschichte abschliessen zu können. Die öffentliche Anerkennung der Verbrechen und deren Ahndung in fairen Prozessen sind wichtige Aspekte bei der Bewältigung der Vergangenheit.
Bis zur Entdeckung des Archivs sahen sich Staatsanwälte mit einer Mauer des Schweigens konfrontiert. Das Fehlen von Beweisen schränkte ihren Handlungsspielraum massiv ein. Nun schlägt das Archiv eine Bresche. Die Täter können nicht mehr länger leugnen, ZeugInnen diskreditieren oder Fakten verdrehen. Endlich kann mit schwarz auf weiss belegt werden, was AugenzeugInnen längst berichteten. Bis zum heutigenTag stellten Angehörige und Staatsanwaltschaft insgesamt über 11’000 Auskunftsbegehren und rund 240’000 Dokumente wurden ausgeliefert. Einige dieser Dokumente wurden zu Schlüsselbeweisstücken in wegweisenden Prozessen.
Das Archiv: ein Vermächtnis an die Jugend und die Indígenas
Das Archiv dokumentiert den wohl schmerzvollsten Teil der guatemaltekischen Geschichte. 80 Millionen Dokumente machen es unmöglich, diese zu leugnen oder umzudeuten: weder den Genozid an der indigenen Landbevölkerung, den Frauen, den Linken und den Intellektuellen, noch das Mitwirken der staatlichen Organe.
Weiterführende Information
Keep your eyes on Guatemala Dokumentarfilm über das AHPN (Spanisch / Englisch)
La Isla: Archivo de una tragedia Dokumentarfilm über das AHPN in seinem historischen Kontext (Spanisch)
Offizielle Webseite des AHPN: www.archivohistoricopn.org (Spanisch)
Onlinearchiv und Webseite der University of Texas: https://ahpn.lib.utexas.edu (Englisch/Spanisch)
18. April 2017, Jürg Kohli und Andreas Koller
One thought on “Archivo Histórico de la Policia Nacional: Erinnern, um nicht zu Wiederholen!”