Nun bin ich bereits zwei Monate hier in Guatemala. Das Klima hier auf 1500 m Höhe ist angenehm, mit starker Sonne und in den letzten Tagen manchmal bis gegen 30°C, aber meist mit angenehmem Wind und bisher kaum Regen. Irgendwann in den nächsten Wochen ist aber der Beginn der Regenzeit fällig. Die meisten Tage bisher waren klar, so dass man vom Dach aus die nächsten Vulkane sehen kann.
Der Blick vom Dach nach unten geht auf die Terrasse des obersten Geschosses mit den Zugängen zu den zwei Schlafräumen, und dazwischen zu Waschküche und Dusche/WC. Das WG-Leben hier ist eng wie in einer SAC-Hütte, bei der man vor zehn Jahren den Hüttenwart weggespart hat: also basisdemokratisch-chaotisch, was mir als älterem Semester die Angewöhnung erschwerte.
Wir leben in einem ruhigen Viertel nahe des historischen Zentrums, das auch seine stilleren Ecken hat. Hier und dort wird es aber brutal zerschnitten von mehrspurigen Durchgangsstrassen mit höllischem Verkehr, so dass an neuralgischen Punkten Passarellen gebaut wurden. Eine davon überquerten wir auf dem Weg zu unserem Photographen, bei dem wir einen speziellen Ausweis mit Bild bezogen, so dass wir nicht ständig den Pass mit uns herumschleppen müssen. Bei einem Einkaufsbummel am Samstagnachmittag haben wir allerhand Darbietungen auf der teilweise verkehrsbefreiten Avenida 6 genossen, wie man das auch in Bern im „Rohr“ tut.
Die Avenida mündet auf den Hauptplatz mit der Kathedrale des Erzbischofs von Guatemala. Im gediegenen Palast dahinter war ich jetzt auch schon zwei Mal an Sitzungen, wo sich Mitglieder verschiedener NGOs trafen mit einem wegen seiner Umweltschutzaktivitäten bedrohten Paar vom Land, das wir anschliessend zur Erstattung von Anzeigen im Ministerio Publico, der zentralen Staatsanwaltschaft des Landes, begleiteten. Am gleichen Platz ist der Palacio Nacional de la Cultura, der jetzt als Museum und für kulturelle Anlässe genutzt wird. In seiner heutigen Form wurde er 1943 vollendet, als Präsidentenpalast des Diktators Ubico, der im Jahr darauf gestürzt wurde. Das leitete die demokratische Phase mit den frei gewählten Präsidenten Arévalo und Arbenz ein, die 1954 beendet wurde durch die Intervention des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA zusammen mit abtrünnigen Militärs. Darauf folgte der langjährige Bürgerkrieg. Während der sich dann ablösenden Militärdiktaturen gab es im und um den Palast immer wieder politische Morde und auch Anschläge der Guerilla. Aber 1996 wurde dort der Friedensvertrag zur Beendigung des Bürgerkriegs unterzeichnet und seither wird der Palacio nicht mehr als Regierungssitz verwendet.
Die Fahne von Guatemala war auf Halbmast an diesem Tag und vor dem Palast wurde lautstark demonstriert. Denn nach Konflikten mit dem Gesetz in einem von der Regierung geführten so genannten „sicheren Heim“ unweit der Hauptstadt waren 41 Mädchen und junge Frauen eingesperrt worden, und als Feuer ausbrach, konnten sie nicht fliehen und verbrannten. Danach waren die Zeitungen voll von Enthüllungen über die im Heim herrschenden Missstände, von Stellungnahmen bis hinauf zum Präsidenten, umgehenden Festnahmen von voraussichtlich Verantwortlichen, und Gerichtsprozesse wurden bereits eröffnet. Die anhaltenden Demonstrationen auf dem Hauptplatz und der Rummel in den Medien entfalteten sich während unserer Ausbildungswoche hier und veranlassten eine Kollegin zur Aussage, dass sich nach diesem Ereignis sicher etwas Grundlegendes ändern werde in Guatemala. Worauf eine der Ausbildnerinnen meinte, dass nächsten Winter wohl niemand mehr darüber sprechen würde: Solche Ereignisse sind zu häufig hier.
Weil wir von ACOGUATE uns einsetzen für bedrohte VerteidigerInnen der Menschenrechte hier im Land, müssen wir zahlreiche Schutzmassnahmen strikt einhalten, wenn wir uns ausserhalb des Hauses und im Land draussen bewegen und miteinander kommunizieren. Anfangs war ich sehr erstaunt bis befremdet, und es braucht Zeit, sich daran zu gewöhnen, weil man durch die Sicherheitsregeln stark eingeschränkt ist in der von der Schweiz her gewohnten Bewegungsfreiheit. Aber ich wollte mit meinem Einsatz ja auch erfahren, wie die Situation hier in Guatemala ist. Und das erweitert dann den Horizont gewaltig. Die meisten Leute hier sind offen, hilfsbereit, oft mit einer Fröhlichkeit, die uns befremdet, wenn wir ihre Lebensumstände in Betracht ziehen. Und durch unsere Arbeit lernen wir jetzt auch die vielen Menschen und Institutionen kennen, die sich einsetzen für die Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft und die Aufarbeitung der Ereignisse der letzten Jahrzehnte. Wenn auch oft bedroht, gibt es hier viele, die sich für eine bessere Zukunft Guatemalas einsetzen.
Das Foto zu Beginn dieses Textes zeigt die Fassade des Hauses von FAMDEGUA (Asociación de Familiares de Detenidos-Desaparecidos de Guatemala) anlässlich meines ersten Einsatzes als Menschenrechtsbegleiter, wobei es sich einfach um den wöchentlichen Besuch zum Informationsaustausch mit dieser Organisation handelte. Zweck des Besuchs war auch die Videoaufnahme eines kurzen Interviews mit der Leiterin von FAMDEGUA. Ehemalige BegleiterInnen machen mit einem Film Öffentlichkeitsarbeit in Schweden und wollen dabei ihre Vorträge mit dem kurzen Interview ergänzen. Die Leiterin von FAMDEGUA ist eine sehr eindrückliche Person, die ich seither auch wieder an Gerichtsverhandlungen, die wir begleiteten, angetroffen habe. Es handelt sich um Fälle mit Anklage wegen Genozids Anfang der 1980er Jahre, als die Militärregierung überging zur Tötung der Einwohnerschaft von ganzen Dörfern, die vom Militär der Unterstützung der Guerilla bezichtigt wurden. In einzelnen dieser Fälle werden von der Anklage auch Daten aus dem AHPN (Historisches Archiv der «Policía Nacional», s. Blogeintrag vom 24. April 2017) verwendet. Allerdings wäre da das sicherlich existierende Archiv der Armee nützlicher. Aber das Militär ist noch so mächtig, dass da nicht ranzukommen ist.
In ein paar Tagen werde ich zu einer Begleitung in den Norden des Landes reisen, zusammen mit einem anderen Freiwilligen von PWS sowie einer Französin, die bereits länger hier im Projekt als Menschenrechtsbegleiterin arbeitet.
Guatemala-Stadt, Jürg Kohli, Mitte April 2017