Artikel von Marina Bieri, Menschenrechtsbegleiterin von Peace Watch Switzerland (PWS) in Honduras.
Tegucigalpa, Honduras, im März 2022
Am Mittwoch, 9. Februar 2022, wurde das Urteil im Fall der Umweltverteidiger von Guapinol gefällt, der auch international viel Beachtung fand. PWS beobachtete Teile der mehrere Wochen dauernden Hauptverhandlung sowie den Urteilsspruch und begleitete das vor dem Gericht errichtete Camp.
Im Dezember letzten Jahres begann die Hauptverhandlung des Strafprozesses gegen die acht Umweltverteidiger von Guapinol, der am 9. Februar 2022 mit der Verurteilung von sechs der acht Angeklagten ein vorläufiges Ende fand. Die Angeklagten beteiligten sich zwischen August und Oktober 2018 an einem Camp, das errichtet wurde, um die Arbeiten eines Bergbauunternehmens zu stoppen. Diese verschmutzten die Flüsse Guapinol und San Pedro, welche Wasser für Mensch, Tier und Haushalt liefern. Als Sicherheitskräfte Anfang September 2018 das Camp räumen wollten, wurde Gewalt eingesetzt. Während die Körperverletzung eines angeschossenen Camp-Teilnehmers bis heute nicht untersucht wurde, wurden gegen mehrere der Camp-Teilnehmer Haftbefehle ausgesprochen, da ein Auto und zwei Container in Brand gesetzt und einer der anwesenden Sicherheitskräfte festgehalten wurde. Acht von ihnen verbrachten zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft. Die Anklage gegen sie lautete zu Beginn des Prozesses auf Freiheitsberaubung und schwere Brandstiftung und wurde von der Anklage während des Prozesses um das Delikt der Sachbeschädigung erweitert. Aufgrund der vielen Unregelmässigkeiten und der langen gesetzeswidrigen Sicherheitshaft der acht Angeklagten erregte der Fall internationale Aufmerksamkeit. Um das Interesse der internationalen Gemeinschaft an diesem Fall deutlich zu machen und ein faires und rechtmässiges Verfahren zu fördern, beobachteten PWS und weitere nationale und internationale Organisationen den Prozess zwischen Dezember 2021 und Januar 2022.
Nachdem alle Beweise vorgelegt worden waren und die Anwältinnen beider Parteien ihr Plädoyer gehalten hatten, stand am 9. Februar 2022 die Urteilsverkündung im Gericht in Tocoa an. Da Tocoa eine circa achtstündige Autofahrt von der Hauptstadt Tegucigalpa entfernt im Norden von Honduras liegt, haben wir uns für diese Begleitung mit den Kolleginnen von Peace Brigades International (PBI) zusammengetan. Am Abend vor der Urteilsverkündung fragen wir uns, was wohl passieren wird. Werden die Angeklagten aufgrund mangelhafter Beweise und widersprüchlicher Zeugenaussagen freigesprochen oder verurteilt sie das Gericht trotz allem zu mehreren Jahren Gefängnis? Alles scheint möglich und niemand traut sich, Vorhersagen zu machen. Ein Vertreter des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte in Honduras erzählt uns, dass er während der Fahrt nach Tocoa an zwei Statements gearbeitet hat: Eines für den Fall eines Freispruchs und eines für den Fall einer Verurteilung.
Am nächsten Morgen kommen wir bereits vor der für die Urteilsverkündung angesetzten Uhrzeit im Camp vor dem Gerichtsgebäude an. Die aus Guapinol und umliegenden Dörfern angereisten Personen sind rund um einen Kreis aus farbigen Blättern mit einem kleinen Feuer in der Mitte versammelt und haben Bilder der acht angeklagten Kameraden vor sich ausgelegt. Einer der Anwesenden spricht ein kurzes Gebet und eine weitere Person erinnert die versammelte Gruppe daran, dass es der Kampf für sauberes Wasser und eine intakte Umwelt ist, für den sich die acht angeklagten Gemeindemitglieder eingesetzt haben und der sie heute vor Gericht ihr Urteil erwarten lässt. Nach dieser kurzen Ansprache werden Familienmitglieder der Angeklagten aufgefordert, ein paar Worte zu sagen. Doch zum ersten Mal scheint niemand grosse Lust zu verspüren, seinen Gefühlen und Gedanken Ausdruck zu verleihen.
Um circa 9 Uhr, die Uhrzeit, um die die Urteilsverkündung starten sollte, begeben wir uns ins Gerichtsgebäude. Über eine Stunde später betreten die drei Richter den Gerichtssaal und die Urteilsverlesung beginnt. Sechs der acht Angeklagten werden in allen Anklagepunkten für schuldig befunden, während die zwei anderen von allen Anklagepunkten freigesprochen werden. Auf eine Motivation des Urteils warten die im Gerichtssaal anwesenden Personen vergebens. Das Gericht beteuert in seinem mündlichen Urteil nur, dass es alle Beweise sorgfältig geprüft hätte. Als die Anwälte der Verteidigung Erläuterungen bezüglich des Urteils verlangen, ziehen sich die Richter zur Beratung zurück und lassen die Gerichtsschreiberin dann ausrichten, dass die Verhandlung zu Ende sei.
Als wir uns kurz mit den acht Umweltverteidigern unterhalten können, wirken die meisten gefasst, obwohl einer der Verurteilten meint, dass er zwar wusste, dass es zu einer Verurteilung kommen könnte, er aber emotional dennoch nicht darauf vorbereitet gewesen sei. Einer der beiden Freigesprochenen ist jedoch aufgewühlt und den Tränen nahe. Ihm tut es unendlich leid, dass sechs seiner Mitinhaftierten für schuldig befunden wurden und gleichzeitig macht er sich nun, da er bald in Freiheit sein wird, Sorgen um seine eigene Sicherheit und diejenige seiner Familie.
Später äussern sich drei der Anwälte im Camp umringt von Familienmitgliedern und weiteren Unterstützer*innen der Angeklagten zum Urteil. Ihre Meinung ist klar: «Es handelt sich um ein politisches Urteil, das auf privaten Interessen gründet. Die Verurteilten sind unschuldig und der Staatsanwaltschaft ist es nicht gelungen, das Gegenteil zu beweisen.»
Am späten Abend finden sich erneut zwei der Anwält*innen der Verurteilten im Camp ein und informieren über die nächsten Schritte. Sie haben vor dem Gericht in Trujillo ein Gesuch eingereicht, das die Anwendung des Amnestiedekrets für die acht Umweltverteidiger von Guapinol verlangt, welches vom Kongress beschlossen und von der Präsidentin erlassen wurde. Dieses Dekret ist rechtskräftig und das Gericht somit zur Anwendung verpflichtet. Zwei der Anwälte sind in diesem Augenblick dabei, die notwendigen Dokumente zusammenzutragen, die für die Anwendung des Dekrets benötigt werden. Die Freiheit scheint somit auch für die sechs verurteilten Personen wieder in greifbare Nähe gerückt zu sein.
Am nächsten Abend, dem 10. Februar 2022, dann die überraschende und erfreuliche Nachricht: Das höchste Gericht in Honduras (CSJ) hat zwei Rekurse der Anwält*innen der Angeklagten nach über einem Jahr gutgeheissen und der ganze Prozess inklusive der Verurteilung ist damit nichtig. Das zuständige Gericht muss dieses Urteil nun ausführen und die Freilassung der sechs weiterhin Inhaftierten veranlassen.
Die Umsetzung dieses Urteils sollte dann allerdings nicht so schnell erfolgen, wie man hätte erwarten können. Das erstinstanzliche Gericht in Trujillo erklärte sich in einer ersten Anhörung für nicht zuständig und fügte an, dass es das Urteil des CSJ nicht umsetzen könne, da es dieses noch nicht erhalten hätte. Das Gericht weigerte sich somit, der Entscheidung des höchsten Gerichts von Honduras Folge zu leisten. Erst zwei Wochen nach dem Urteilsspruch des CSJ, am 24. Februar 2022, widerrief das Gericht in Trujillo seine nach der Erstanhörung gefällte Entscheidung, Anklage gegen die acht Umweltverteidiger zu erheben und verfügte stattdessen die Einstellung des Verfahrens. Damit erlangten die sechs verurteilten Umweltverteidiger ihre Freiheit zurück und ihre 914-tägige Odyssee durch das honduranische Justizsystem wurde endlich beendet.