Die Wahl des neuen Obersten Gerichtshofs und wie sie die Zukunft juristischer Verfahren beeinflussen kann

Artikel von Nicolas Schärmeli, internationaler Menschenrechtsbegleiter von PWS in Honduras.

Tegucigalpa, Honduras

Als Xiomara Castro der Partei Libre im Bündnis mit der Partei Salvador de Honduras die Präsidentschaft gewann und im Januar 2022 zu regieren begann, bestand eine grosse Hoffnung auf substanziellen Wandel im Land. Als ich im Juli dieses Jahres hier ankam, konnte ich das noch sehr gut beobachten. Für einen systematischen Wandel reicht es jedoch nicht aus, nur die Regierung und die Exekutive zu ersetzen. Dies zeigte sich in diesem Jahr immer deutlicher. Die seit Jahrzehnten bestehenden Strukturen der Polizei, Armee und Justiz sowie ein großer Teil der Legislative, bestehen nach wie vor und werden von denselben Personen weitergeleitet. In diesem Artikel möchte ich über den Obersten Gerichtshof (CSJ) von Honduras sprechen und wie dessen Entscheidungen sich auf die Menschen auswirken, die wir bei unserer Arbeit begleiten.

Vor einigen Monaten startete der Prozess, den neuen Nominierungsausschuss für den Obersten Gerichtshof zu wählen. Es ist ein Kampf zwischen Politikern, Richterinnen, Parteien, Geschäftsleuten, sozialen Bewegungen, Kirchen und dem organisierten Verbrechen, denn sie alle wollen mit einer Mehrheit vertreten sein. Der Grund dafür ist, dass der Oberste Gerichtshof über erhebliche Macht und über Einfluss verfügt. Laut CESPAD: “…alle Ernennungen, Entlassungen, Versetzungen, Verweise (…) liegen in den Händen des Präsidenten (des Obersten Gerichtshofs). Die Macht darüber, wer in ein Amt antritt oder aus einem Amt entfernt wird, liegt ebenfalls in den Händen desjenigen, der dieses Amt besetzt.”[1]  Dies ist ein Mass an Einfluss auf die Führung des Landes, die mit der der Präsidentschaft vergleichbar ist. Es handelt sich um eine systemspezifische Macht mit dem Potenzial, die bestehenden Strukturen zu erhalten oder aufzubrechen, je nachdem, wer die Position besetzen wird.

In zahlreichen Gesprächen mit Menschen hier in Honduras konnte ich allerdings ein Misstrauen feststellen, welches die Verfahren, die Vertretungen und die Einflussnahme bei der Auswahl von Richter*innen, Nominierungsausschüssen oder Amtsträger*innen in Frage stellt. Darüber hinaus gibt es ein weiteres grosses Problem, nämlich die Glaubwürdigkeit und die Art und Weise, wie der Oberste Gerichtshof in den vergangenen Jahren handelte. Oder wie es die Zeitung criterio.hn schreibt: “Diese Situation wäre natürlich nicht so gravierend für das Funktionieren des Rechtsstaates, wenn der Oberste Gerichtshof ein Mindestmaß an Glaubwürdigkeit geniessen würde, sowohl was die Qualifikation als auch die Integrität seiner Mitglieder betrifft.” [2]

Dieses Misstrauen ist nicht ohne Grund entstanden, sondern geht auf mehrere Entscheidungen der letzten Jahre zurück, welche von verschiedensten Menschenrechtsorganisationen kritisiert wurden. Die besten Beispiele sind die verfassungswidrige Ratifizierung des ehemaligen Präsidenten Juan Orlando Hernández im Jahr 2014, aber auch die Genehmigung der Beschäftigungs- und Entwicklungszonen (ZEDE) in verschiedenen Teilen des Landes.[3],[4]

Die Entscheidung, ZEDEs zu genehmigen, ist an sich schon problematisch, aber durch die Zwangsräumungen und die Kriminalisierung der lokalen Bevölkerung verschlimmert sich die Lage zusätzlich. Dies ist eine Entscheidung die vor kurzem zu einer gewaltsamen und erzwungenen Räumung in Punta Gorda, Roatan, führte, wo sechs Garifuna-Demonstranten, die ihr angestammtes Land verteidigten. Sie wurden festgenommen.[5]  Das Beispiel von Punta Gorda ist das jüngste, aber es gibt mehrere ähnliche Fälle. Auch PWS begleitet in Zacate Grande bei der Basisorganisation ADEPZA einen solchen Fall. Lesen Sie hier mehr darüber.

Im Fall von Guapinol, wo ein Konflikt um verschiedene Grossprojekten existiert, darunter einer Mine in einem Nationalpark, welcher sich auf die Flüsse, das Trinkwasser und die Wohngebiete der Menschen auswirkt, wurden acht Umweltschützer für 30 Monate ihrer Freiheit beraubt, weil sie ihre Güter und Rechte verteidigten. In diesem Fall soll es zu Unregelmäßigkeiten in mehreren Gerichtsverfahren und zu einer Verschwörung zwischen dem Unternehmen Los Pinares und Vertretern des Obersten Gerichtshofs gekommen sein. Am Ende mussten die Verteidiger freigelassen werden, weil die Anklage abgewiesen wurde, aber Sie verloren fast drei Jahre ihres Lebens.[6],[7]

Darüber hinaus muss in mehreren Fällen, die wir in den vergangenen Monaten begleitet haben, noch immer auf eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von Honduras gewartet werden. Im Fall von Keyla Martinez, wo die Polizei von La Esperanza eine junge Krankenschwester verhaftete und am nächsten Tag behauptete, sie habe in der Zelle Selbstmord begangen, wird immer noch auf einen Entscheid des Obersten Gerichtshofs gewartet. Die zwei Berufungen entscheiden, ob der Fall als schwerer Femizid oder einfacher Mord behandelt wird.[8]  Das Gericht hat bereits die Schlussfolgerungen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung gehört, kann aber ohne einen Entschluss nicht weitergeführt werden. 

Im Fall des Betrugs in Gualcarque, bei dem die Staatsanwaltschaft die Ermordung von Berta Cáceres mit dem Betrug zwischen der Firma DESA, der nationalen Elektrizitätsgesellschaft (ENEE) und öffentlichen Beamten in Verbindung bringen will, ist auch eine Berufung des Rates der volks- und indigenen Organisationen von Honduras (COPINH), als Opfer in den Prozess einbezogen zu werden, noch ausstehend.[9],[10] Diese Entschlüsse stehen schon seit langem an, werden aber nicht gefällt. Die Zivilgesellschaft, die sozialen Bewegungen, das Sekretariat für Menschenrechte in Honduras und die UNO üben Druck aus, aber bis jetzt ist noch keine Entscheidung gefallen.

Der Einfluss, den der Oberste Gerichtshof und die Justiz im Allgemeinen auf das Leben von Verteidigern haben kann, darf und sollte nicht unterschätzt werden. Vielleicht fällt es im Alltag nicht gleich auf, sofern man nicht direkt betroffen ist, aber an diesen Beispielen kann man erkennen, warum eine unabhängige und fachlich sowie ethisch qualifizierte Justiz dazu beiträgt, die Bedingungen der Menschen zu verbessern, die ihre Rechte verteidigen und Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz fordern. Die pazifistische Lösung wird schlussendlich über den rechtlichen Weg gefunden, was allerdings nur funktioniert, wenn eine unabhängige, unparteiische und qualifizierte Instanz dies einfordert.

Aus diesen Gründen ist die Wahl des Nominierungsausschusses durch den Obersten Gerichtshof für die sozialen Bewegungen in Honduras so wichtig. Die neuen Richter und Staatsanwälte werden ihr Amt für die nächsten sieben Jahre innehaben und können den Fortschritt, die Stagnation oder den Rückschritt des Landes massgeblich beeinflussen. Es bestehen jedoch grosse Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte, da eben diese, der Privatsektor und generell mächtige Personen sowie das organisierte Verbrechen oft direkt, aber auch indirekt Einfluss auf den Prozess nehmen.

Bei der Auswahl der 45 Personen für das Nominierungsgremium aus den mehr als 180 Kandidaten, werden berufliche, persönliche und persönliche Aspekte berücksichtigt. Von diesen 45 Kandidaten werden am 25. Januar die 128 Abgeordneten des honduranischen Kongresses 15 Personen wählen, die den Vorsitz des Obersten Gerichtshofs in Honduras bilden sollen. Um dies zu erreichen, müssen die Kandidaten einen psychometrischen und toxikologischen Test bestehen sowie ihre rechtlichen Kenntnisse unter Beweis stellen. In diesem Prozess sind bereits mehrere Beschwerden und Probleme aufgetreten. Zunächst musste aufgrund mangelnder technischer und technologischer Kapazitäten auf die Plattform der Nationalen Autonomen Universität von Honduras (UNAH) zurückgegriffen werden, die verantwortliche Instanz verfügte nicht über genügend Mittel. Ausserdem kursierten 24 Bilder mit Fragen und Antworten aus dem Multiple-Choice-Format in sozialen Netzwerken. Auf jedem Bild waren die richtigen Antworten gelb markiert. Laut der Zeitung Contracorriente: “Eine Quelle innerhalb des Nominierungsausschusses versicherte Contracorriente unter der Bedingung der Anonymität, dass die undichte Stelle erst nach der Durchführung der Tests gefunden wurde und dass dies wahrscheinlich angezeigt wurde, um den Prozess zu annullieren und die Prüfungen zu wiederholen, um die Kandidaten zu begünstigen, die den politischen Parteien nahestehen, die bei dem Test zurückgestellt wurden”. Zu den Personen, die sich beschweren gehört auch der Hauptanwalt von Los Pinares Investments, der die Verteidiger von Guapinol kriminalisiert hat.

Der Nominierungsrat weist diese Vorwürfe zurück und hat angekündigt, dass er eine Untersuchungskommission des honduranischen Rates für Privatunternehmen (COHEP) in Erwägung zieht. An dieser Stelle sollte allerdings erwähnt werden, dass auch die COHEP-Vertreter ihre Interessen haben. Verschiedene Bereiche der Zivilgesellschaft, wie die Articulación Ciudadana por la Transparencia y la Justicia (ACTJ) und die Anti-Korruptions-Koalition, fordern jedoch eine Untersuchung mit öffentlichen Ergebnissen. Das Interessante an dieser Situation ist, dass es sich meines Erachtens nur um einen Kampf zwischen wirtschaftlichen und politischen Interessen handelt und darum, welche Sektoren im Obersten Gerichtshof vertreten sein werden. Denn wenn man sich die 69 verbliebenen Kandidaten anschaut, sind die Zivilgesellschaft und die sozialen Bewegungen fast nicht vertreten. Auf der anderen Seite wurden mehrere Bewerber wegen ihrer Verbindungen zum Drogenhandel, früherer Korruption oder illegaler Aktivitäten als Beamte in früheren Positionen nicht zugelassen.[11],[12]

Als ich die Profile einiger Kandidaten las, war ich von diversen Nominierungen überrascht und noch erstaunter, dass zurzeit immer noch verschiedenste im Verfahren sind. Es mussten bereits verschiedenste Kandidaten aus dem Rennen aussteigen, da ihnen Kontakte mit dem Drogenhandel, der Armee oder Abgeordneten, die der Korruption auf höchster Ebene oder des Wahlbetrugs vorgeworfen wurden. Diese Anschuldigungen halten allerdings nicht davon ab, dass Kandidaten, die der gleichen Verbrechen und Verbindungen beschuldigt werden, alle Teste bis jetzt bestanden. So befinden sich beispielsweise ein ehemaliger Abgeordneter der Nationalen Partei, der mit einem Drogenkartell in Verbindung gebracht wird, der Ex-Verteidiger des ehemaligen Präsidenten Juan Orlando Hernández (der jetzt in den USA des Drogenhandels beschuldigt wird), der Richter, der versucht haben soll, die ehemalige First Lady zu begünstigen, und jemand, der in die Veruntreuung des Nationalen Instituts für Berufsbildung (Infop) verwickelt sein soll, noch im Verfahren. Außerdem stellen sich sechs der derzeitigen Richter zur Wiederwahl, obwohl es verschiedenste Zweifel an ihren Entscheidungen gibt, aber sie haben alle Prüfungen bestanden und sind weiterhin im Rennen. Es gab auch einen Aufschrei, als mehrere der Präsidentin nahestehende Personen sich privat mit den Personen trafen, die den Nominierungsausschuss auswählten, und alle die Tests bestanden. Und dies sind nur einige der Beispiele einer deutlich längeren Liste. [13]

Was mich schlussendlich sehr nachdenklich stimmte war die Änderung der Bewertungskriterien der Regierung kurz vor Schluss, in welchen ursprünglich zu 30 % auf die persönliche und berufliche Integrität, zu 30 % auf die Berufsethik und zu 40 % auf die Eignung und die fachliche Leistungsfähigkeit bewertet und gezählt werden sollte. Schließlich entschieden sie sich für 25 % für die persönliche und berufliche Integrität, 20 % für die Berufsethik und 55 % für die Eignung und fachliche Leistung.[14]

Darin spiegeln sich die Prioritäten der Personen mit Macht und Einfluss wider, und wenn jemand langfristig denkt und wissen will, wie ein System verbessert werden kann, sollten persönliche Integrität und Berufsethik an erster Stelle stehen. Wie soll ein Richter, der nicht ethisch und integer handelt, sein Amt gewissenhaft und fair ausüben?

Schließlich erinnere ich mich an ein Treffen, bei dem sich mehrere Aktivisten der Zivilgesellschaft zu diesem Thema äußerten und sagten, dass mehr Druck auf die beteiligten staatlichen Stellen und Organisationen ausgeübt werden muss, um einen Ausschuss zu bilden, der auch die Interessen der Bevölkerung vertritt. Wenn sich die sozialen Bewegungen nicht an judikativen Prozessen beteiligen und Entscheide den Interessen, die sich gegen die Menschenrechte richten, überlassen, wird der einzige friedliche Weg, nämlich der rechtliche Weg vor Gericht, sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich.


Bildlegende: Oberster Gerichtshof, Mai 2021 während einer Demonstration des COPINH. Photo: PWS 2021

[1] https://cespad.org.hn/el-poderio-e-influencia-que-tienen-los-15-magistrados-en-el-poder-judicial-de-honduras/

[2] https://criterio.hn/eleccion-de-magistrados-de-la-corte-suprema-de-justicia/

[3] https://criterio.hn/eleccion-de-magistrados-de-la-corte-suprema-de-justicia/

[4] https://contracorriente.red/2022/11/24/los-claroscuros-de-la-junta-nominadora-para-elegir-a-la-corte-suprema-en-honduras/

[5] https://criterio.hn/garifunas-son-violentamente-desalojados-y-capturados-por-policias-en-punta-gorda-roatan/, https://reportarsinmiedo.org/2022/11/13/punta-gorda-en-la-mira-de-las-zede/

[6] https://www.defensoresenlinea.com/el-poder-economico-que-controla-los-tribunales-mantiene-presos-a-ambientalistas-de-guapinol/

[7] https://cespad.org.hn/el-poderio-e-influencia-que-tienen-los-15-magistrados-en-el-poder-judicial-de-honduras/

[8] https://www.defensoresenlinea.com/solicitan-a-la-csj-resuelva-recurso-de-amparo-en-el-caso-de-keyla-martinez/

[9] https://copinh.org/2022/09/comunicado-justicia-hondurena-sigue-dando-largas-al-caso-fraude-sobre-el-gualcarque/

[10] https://www.fidh.org/es/region/americas/honduras/mision-internacional-observara-caso-fraude-sobre-gualcarque

[11] https://criterio.hn/105-autopostulantes-a-la-csj-en-investigacion-socioeconomica-en-medio-de-senalamientos-contra-el-proceso/

[12] https://contracorriente.red/2022/11/24/los-claroscuros-de-la-junta-nominadora-para-elegir-a-la-corte-suprema-en-honduras/

[13] https://criterio.hn/conozca-los-69-aspirantes-a-la-corte-suprema-que-quedaron-fuera/

[14] https://contracorriente.red/2022/11/24/los-claroscuros-de-la-junta-nominadora-para-elegir-a-la-corte-suprema-en-honduras/

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