Wiederaufnahme des Genozid-Prozesses

Die Journalisten stürmen plötzlich aus dem Saal. Es ist der 23. Juli 2015, und wir befinden uns im überfüllten Gerichtssaal in Guatemalas Strafgerichtshof. Vor Gericht steht José Efraín Ríos Montt, Staatschef während der blutigsten Zeit des internen bewaffneten Konflikts. 30 Jahre sind seither vergangen. Der greise General liegt zu Hause im Krankenbett und ist per Videokonferenz zugeschaltet. Auf der Anklagebank sitzt José Mauricio Rodríguez Sánchez, ex-Geheimdienstchef und Teil der repressiven Militärregierung unter Ríos Montt. Die Anklage lautet auf Kriegsverbrechen und Genozid.

Grund der Aufregung im Gerichtssaal ist die überraschende Ankunft des amerikanischen Botschafters. Todd Robinson ist in Guatemala durchaus umstritten. Der Diplomat sparte in den letzten Monaten nicht mit pointierten Kommentaren zur schweren politischen und institutionellen Krise, die das Land zurzeit an den Rand der Regierbarkeit bringt und die anstehenden Wahlen gefährdet. Guatemala, zentrale Transitroute des transnationalen Menschen- und Drogenhandels, kennt Robinson mittlerweile für seine medienwirksamen Auftritte. Die seit Anfang Sommer aufkeimende Bürgerbewegung, die grösste seit dem demokratischen Frühling 1944, unterstützte er öffentlich. Die chronische Korruption im politischen System, Anlass der Proteste, rief vor einigen Jahren die UNO auf den Plan. Eigens für Guatemala wurde eine Kommission eingerichtet, die gegen Straflosigkeit und kriminelle Strukturen im Staatsapparat ermittelt. Ohne den Druck Washingtons hätte die Regierung das Mandat der in der Bevölkerung inzwischen beliebten Kommission vor kurzem auslaufen lassen. Der Aktionismus des Botschafters wird hierzulande dennoch zwiespältig beurteilt, dafür ist die Beziehung zum „grossen Bruder“ historisch zu stark belastet.

Robinsons Auftritt im Gerichtssaal ist dennoch ein starkes Zeichen. Darin stimmen die im Gerichtssaal Anwesenden – Organisationen der Zeugen und Opfer, weitere Mitglieder des diplomatischen Corps, Medienschaffende sowie nationale und internationale Beobachtende – überein. Es nährt die Hoffnung, dass dieser für Guatemala emblematische Fall endlich abgeschlossen wird. In seinem historischen Entscheid von 2013 hatte ein Spezialgericht Ríos Montt wegen Völkermords und Vergehen gegen das humanitäre Völkerrecht zu 80 Jahren Gefängnis verurteilt. Nur wenige Tage nach dem Urteil beanstandete das von der Verteidigung angerufene Verfassungsgericht Verfahrensmängel und ordnete die Wiederholung des debate oral y publico – der öffentlichen Anhörung von Zeugen und Experten – an. Beobachter vermuten aufgrund der juristisch fragwürdigen Argumentation des höchsten Gerichtshofs politische Einflussnahme. Mächtige wirtschaftliche und militärische Kreise hatten gegen das Urteil Stimmung gemacht.

Deshalb ist nicht unwesentlich, dass das Augenmerk der USA jetzt auch auf dem Genozid-Prozess liegt. Die Verteidigung, das Richtergremium und jene Kräfte, die eine Anerkennung der mehrheitlich an der indigenen Bevölkerung begangenen und von einer UNO-Wahrheitskommission im Detail nachgezeichneten Verbrechen ablehnen, dürften dies registriert haben. Ersterer war es seit 2013 gelungen, die Wiederaufnahme des Prozesses zu vereiteln. Dies liess den Fall in der medialen Wahrnehmung national und international an Bedeutung verlieren. Im Januar 2015 musste das mit dem Fall betraute Gericht in der ersten Anhörung in den Ausstand treten, nachdem Ríos Montts Anwälte argumentiert hatten, eine der Richterinnen sei aufgrund einer Arbeit zum Thema Genozid voreingenommen. Erst Monate später wurde ein neues Gericht ernannt. Nach der Ermordung des in zahlreiche illustre Prozesse involvierten Hauptanwalts von Ríos Montt im Juni dieses Jahres verfolgte die neu formierte Verteidigung die Strategie, den Angeklagten mittels diverser medizinischer Gutachten, die ihm Gebrechen und eine fortgeschrittene Demenz attestieren, als prozessunfähig erklären zu lassen.

Unter den Augen des amerikanischen Botschafters erleidet diese Strategie in der Anhörung, die mehr als zehn Stunden dauert, einen Rückschlag. Die Staatsanwaltschaft kann mittels eigener Expertisen darlegen, dass die Gutachten des nationalen forensischen Instituts nicht glaubwürdig sind. Sie behauptet, der Angeklagte habe während des Examens unter dem Einfluss von Medikamenten gestanden. Die Richter beschliessen die Internierung des Angeklagten im nationalen psychiatrischen Spital, das für seinen katastrophalen Zustand berüchtigt ist. Dort sollen mehrere Psychiater den Gesundheitszustand von Ríos Montt abklären. Allerdings kann die Verteidigung die Verlegung in letzter Sekunde mit einem Einspruch verhindern. Eine höhere Instanz stellt sich prompt auf die Seite des einstigen Machthabers. Es ist nicht das erste Mal.

Ein neuer Gerichtstermin am 4. August bringt schliesslich den Entscheid: Ríos Montt soll in einem privaten Krankenhaus untergebracht und untersucht werden. Todd Robinson ist an diesem Tag abwesend, zugegen sind diplomatische Vertreter anderer Staaten, auch aus der Schweiz. Unter dem Blitzlichtgewitter der Kameras wird Ríos Montt noch am selben Tag in seiner Residenz abgeholt und per Krankenwagen eingeliefert. Ist der General wirklich dement? Die Opfer seiner Repression kennen die Antwort schon lange. Am 18. August 2015 wird sich zeigen, ob sich Ríos Montt dem Prozess stellen muss. Und ob Guatemalas Genozid-Opfer endlich Gerechtigkeit erfahren.

Roberto Lang, Guatemala-Stadt, 10. August 2015

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